Der Kritik geht es nicht besonders gut. Gerade im Jahr des 50. Geburtstags von 68 fällt auf, wie glanz-, lust- und kraftlos sich die Gesellschaftskritik darstellt. Sie scheint heute keinen mehr zu überraschen und zu provozieren, sie scheint in alten Rederoutinen verfangen. Wer interessiert sich eigentlich noch für den klassischen Intellektuellen? Und wer traut der Gesellschaftskritik schon ernsthaft zu, die Gesellschaft auch wirklich zu verändern? In akademischen Debatten wird die Kritik sogar verdächtigt, die bestehenden Verhältnisse noch zu bestärken und eine Art Schmiermittel in der neoliberalen Maschinerie zu sein. In den sozialen Netzwerken wiederum scheint die Kritik jedes Maß und jedes Ziel zu verlieren. Und sowohl in der digitalen als auch in der analogen Realität wächst mit der Aggressivität auch die Empfindlichkeit, und oft taugt schon der Verweis auf das authentisch-gekränkte Seelenleben als Argumentationsersatz.
Über diesen Zustand der Gesellschaftskritik wollen die beiden Autoren nicht jammern. Stattdessen blicken sie in die Gegenwart und Zukunft und sagen: Wir müssen die Kritik wieder trainieren!
Die gute Nachricht ist: Kritik ist ein Muskel, der trainiert werden kann und »Kritik üben. Ein Manual: für alle → vom Einsteiger bis zum Profi« ist das passende Work-out dazu! In acht Kapitel beziehungsweise Übungseinheiten sollen die Leser grundsätzlich über Kritik nachdenken. Dabei helfen Interviews mit »Kritiktrainern«, wie etwa der Philosophin Rahel Jaeggi, dem Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert oder der Feministin Meredith Haaf. Darüber hinaus versammelt »Kritik üben« einschlägige Texte zur Gesellschaftskritik – von Immanuel Kant über Karl Marx bis Jürgen Habermas. Übungsziele sind etwa, die Lust am Streit wiederzuentdecken, dem herrschenden Pessimismus zu widerstehen und zu Maßstäben der Kritik zu kommen. Gut möglich, dass der Leser dabei auch einmal vor den Kopf gestoßen wird. Wenn es etwa darum geht, dass linke und linksradikale Gesellschaftskritiker die Probleme unserer Zeit verharmlosen. Oder dass wir für gute Kritik nicht mehr Moral brauchen, sondern weniger.
Mit Beiträgen u.a. von: Kevin Kühnert, Rahel Jaeggi und Harald Welzer
Friedrich von Borries, Jakob Schrenk
Kritik üben. Ein Manual: für alle – vom Einsteiger bis zum Profi
Edition Kursbuch, Hamburg 2018